Nach nunmehr über 40 Jahren friedlicher und gewinnbringender Präsenz sind
die Muslime ein Teil dieser Gesellschaft geworden. Alle Anzeichen belegen die
Tatsache, daß diese religiöse Minderheit auf Dauer in Deutschland bleiben
wird. Angesichts dessen, plädiert die Mehrheit der Muslime dafür, diese
historische Herausforderung anzunehmen und gezielt ein fruchtbares und
friedliches Miteinander aller Kulturen und Religionen zu fördern. Ein wichtiger
Schritt in diese Richtung ist für die Muslime in Hessen die Gleichstellung der
muslimischen Kinder in den hessischen Bildungseinrichtungen durch die
Einführung eines eigenen konfessionellen Religionsunterrichts, der allen
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verfassungsgemäß garantiert ist.
Im Grundgesetz und in der Hessischen Verfassung sind der schulische Bildungs-
und Erziehungsauftrag sowie folgende Grundrechte verankert:
Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz "Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit"
Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz "Gleichheit aller Bürger vor dem
Gesetz"
Artikel 7 Absatz 2 Grundgesetz "Recht der Erziehungsberechtigten über
Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen".
Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz und Artikel 57 Hessische Verfassung und der
zweite Teil Paragraph 8 Hessisches Schulgesetz: "Konfessioneller
Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach für alle Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften".
Zu diesem Thema befragten wir die Bildungsreferentin der IRH Karola Khan.
Die IRH hat im Mai 1998 einen Antrag beim Hessischen Kultusministerium(HKM)
gestellt auf Einführung des islamischen Religionsunterrichts. Warum strebt die
IRH den islamischen Religionsunterricht an?
Sie haben Recht. Die IRH hat im Mai 1998 beim HKM einen Antrag auf
Genehmigung zur Durchführung von islamischem Religionsunterricht als
Regelunterricht auf deutsch in hessischen Schulen eingereicht.
Damit verlangt die IRH, wie Sie wissen, keine Sonderstellung für die
Muslime, sondern nur das, was die Verfassung jeder Religionsgemeinschaft in
Hessen als Recht zugesteht: Einen konfessionellen Religionsunterricht in der
Schule für alle Kinder, auch die muslimischen Kinder.
Wie soll dieser Unterricht aussehen? Wie kann man sich das vorstellen?
Wir wollen einen ganz normalen Religionsunterricht, wie das Gesetz dies
vorsieht, einen Religionsunterricht, wie wir ihn alle aus der Schule kennen, auf
derselben gesetzlichen Grundlage wie der evangelische und katholische, der
syrisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe, unitarische, freireligiöse und
jüdische Religionsunterricht in Hessen und nach den gleichen Bedingungen für
Lehrerausbildung, Lehrplanentwicklung, Inhalte, pädagogisches und didaktisches
Konzept.
Natürlich auf deutsch und gemeinsam für die muslimischen Kinder aller
Nationalitäten.
Wer kann und wer darf an diesem islamischen Religionsunterricht teilnehmen?
Gibt es Gruppierungen, die sie ausschließen?
Jeder kann und darf daran teilnehmen, wir schließen niemanden aus. Konkret
wird dieser islamische Religionsunterricht als offener Unterricht angeboten,
d.h. teilnehmen können alle interessierten SchülerInnen, Muslime, Christen,
Juden, Buddhisten, Atheisten und Angehörige von Sekten wie Zeugen Jehovas,
Mormonen, Adventisten, Ahmadiyya, Bahaiten usw. Es wird niemand ausgeschlossen,
wir sind offen für alle.
Wer soll diesen Unterricht erteilen? Wer sind die Lehrer?
Erteilt werden soll dieser Unterricht von ganz normalen muslimischen
Lehrerinnen und Lehrern, die ein abgeschlossenes Lehramtsstudium in Deutschland
absolviert haben. Auf keinen Fall werden wir Lehrkräfte aus dem Ausland
importieren. Unsere Lehrer müssen in der hiesigen Gesellschaft heimisch sein
und die Situation ihrer Schüler kennen, um den Unterricht problemorientiert,
zeitgemäß und realitätsbezogen gestalten zu können.
Wer kontrolliert diesen Religionsunterricht?
Wie bei allen anderen Unterrichtsfächern und auch beim Religionsunterricht
der anderen Religionsgemeinschaften unterliegt natürlich auch der islamische
Religionsunterricht der staatlichen Schulaufsicht.
Dies begrüßen wir, weil dadurch vielen Unterstellungen und
Miß-verständnissen vorgebeugt werden kann.
Wer erstellt den Lehrplan und wer bestimmt die Lehrinhalte?
Der Lehrplan wird nach dem Willen des Gesetzgebers in Übereinstimmung mit
den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft erstellt und muß das ganz
normale administrative Genehmigungsverfahren durchlaufen. Also auch hier läuft
alles genauso wie bei den anderen Religionsgemeinschaften.
Müssen alle muslimischen Kinder an diesem Religionsunterricht teilnehmen?
Natürlich nicht! Wie Sie wissen, verbietet der Islam jeglichen Zwang in
allen Bereichen und ebenso unsere Verfassung. Die Teilnahme an diesem Unterricht
ist, wie bei den anderen Religionsgemeinschaften, freiwillig, d.h. die Eltern
können ihre Kinder abmelden und ab dem 14. Lebensjahr steht den Schülern
selbst diese Entscheidung frei.
Was wollen Sie in diesem Unterricht vermitteln?
Unser Unterrichtskonzept ist eingebettet in das pädagogische Konzept der
hiesigen Gesellschaft und steht im Einklang mit dem Erziehungsauftrag der
Schulen.
Wir streben eine gegenwartsbezogene Vermittlung der islamischen Lehre und der
Lebenspraxis der Muslime in Europa an, sowie die Vermittlung von elementaren
Kenntnissen über die anderen Religionen.
Wir werden keine nationalen Traditionen oder politischen Inhalte vermitteln.
Ziel unseres Unterrichts ist die Stärkung des Selbstbewußtseins der
muslimischen Kinder, die Erziehung zum mündigen, kritischen und
verantwortungsbewußten Menschen und die Betonung der Zugehörigkeit zu dieser
Gesellschaft, sowie die Erziehung zur Dialogfähigkeit.
Welche Vorteile bieten sich für die Muslime und welche für die
Mehrheitsgesellschaft?
Die Einführung des IRU bietet natürlich Vorteile für die
Mehrheitsgesellschaft. Die Durchführung des Unterrichts in deutscher Sprache
hat z.B. den Vorteil, daß die Iman- und Lehrinhalte des Islam und die
Unterrichtsziele und Lehrinhalte des Religionsunterrichts in deutsch
ausgearbeitet und vorgelegt werden. Damit wird für jeden ersichtlich und
schwarz auf weiß nachzulesen, welche Werte und Inhalte wir Muslime unseren
Kindern vermitteln.
Damit wird aber auch den politisch Verantwortlichen, der Administration und
einer breiten Öffentlichkeit die notwendige Transparenz verschafft. In Bezug
auf das Genehmigungsverfahren gibt es die demokratisch notwendige Einsichts- und
Einflußmöglichkeit des Staates. Genau dies streben wir an - Transparenz,
Offenheit, Aufklärung und Informationsvermittlung.
Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts auf Deutsch wird neben
der staatlichen Einsichtsmöglichkeit in die Ziele und Inhalte zusätzlich
folgendes leisten:
-) Vorbeugung einer Selbstethnisierung durch sprachliche/ ethnische
Ghettoisierung,
-) Vorbeugung einer Einflußnahme extremistischer Meinungen im
Bildungsbereich,
-) Entwicklung einer positiv besetzten religiösen Identität unserer Kinder,
-) Abbau von Integrationshindernissen durch realitätsbezogenen Unterricht,
-) Förderung der kulturellen Kompetenz deutscher Ausprägung und
-) die Erziehung zur Dialogfähigkeit.
Sie sagen, den islamischen Religionsunterricht sollen ganz normale
Religionslehrer erteilen. Nach unseren Informationen gibt es aber bisher kein
Lehramtstudium für islamische Religionslehrer in Deutschland. Wie wollen sie
die Lehrer ausbilden und welche Lehrer sollen den Unterricht erteilen?
Das ist richtig. Es gibt zwar zur Zeit noch keinen Lehrstuhl für Islamologie,
aber wir streben für die Zukunft die Einrichtung einer universitären
Ausbildungsstätte für islamische Religionslehrer in Hessen an.
In der Übergangszeit werden wir muslimische Lehrerinnen und Lehrer
einstellen, die ein Lehramtsstudium für andere Fächer (Mathematik, Deutsch,
Englisch etc.) in Deutschland absolviert haben. Diesen Pädagogen werden wir
Fortbildungsseminare in Islam anbieten, um sie zu qualifizieren, islamischen
Religionsunterricht zu erteilen.
Weshalb sollen die Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland ausgebildet werden?
Die Ausbildung von islamischen ReligionslehrerInnen und IslamologInnen an
deutschen Universitäten hat zum Vorteil, daß durch die qualifizierte
Auseinandersetzung mit dem Islam auf akademischer Ebene folgendes eingeleitet
wird:
-) die Entwicklung einer deutschen Ausprägung des Islam und der islamischen
Religionsgemeinschaft, sowie
-) die Schaffung der Möglichkeit, aktuelle islamologische Fragen und
Probleme der Muslime in der hiesigen Gesellschaft unter Berücksichtigung der
veränderten Bedürfnisse der hier lebenden Muslime, auf akademischem Niveau
adäquat zu behandeln.
Nach der Wende wurde die Diskussion über die Abschaffung des
Religionsunterrichts wieder
laut. Stattdessen wird von vielen das Fach Lebenskunde, Ethik, Religion/LER
als Alternative vorgeschlagen, um die Aufsplittung der Klassengemeinschaft nach
Religionen und Konfessionen zu vermeiden. Wie steht die IRH dazu?
Zunächst einmal berufen wir uns bei unserem Antrag auf islamischen
Religionsunterricht auf unsere Verfassung. In der Verfassung ist ausdrücklich
der konfessionelle Religionsunterricht und nicht LER als Regelunterricht
vorgesehen. Wir wollen also das, was die Verfassung vorschreibt, wir wollen nur
die Gleichbehandlung mit allen anderen Religionsgemeinschaften und keine
Privilegien. Solange die anderen Religionsgemeinschaften das Recht haben,
konfessionellen Religionsunterricht in der Schule anzubieten, beanspruchen wir
dasselbe Recht. Nicht mehr und ganz bestimmt nicht weniger! Sollte sich eine
politische Mehrheit bilden für eine Verfassungsänderung in diesem Sinne,
werden wir uns dem selbstverständlich nicht widersetzen. Da diese Mehrheit in
Hessen bis jetzt nicht vorhanden ist, sind Spekulationen darüber m. E.
irreführend und derzeit wenig hilfreich. Auf jeden Fall sind die Muslime immer
offen für alternative Konzepte und Unterrichtsmodelle auf dem Boden des
Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung.
Welche Chancen sehen Sie für das interkulturelle Zusammenleben durch diesen
Religionsunterricht?
Die Chance unseres islamischen Religionsunterrichts liegt in der zu
erlernenden Dialogfähigkeit und der zu erlernenden gegenseitigen Akzeptanz der
jeweils fremden Religion. Zur Akzeptanz der anderen Religionen sind wir als
Muslime ohnehin verpflichtet, und zwar durch den Quran selbst.
Der Dialog ermöglicht den Kindern das Kennenlernen, das Verstehen lernen,
das Einnehmen eines anderen Standpunkts, das Wiedererkennen des
"Eigenen" in dem "Anderen". Es ermöglicht schließlich, der
Vielfalt der Religionen mit Aufgeschlossenheit und nicht mit Mißtrauen zu
begegnen. Nur durch Sprechen über scheinbar Trennendes können
Mißverständnisse verhindert, Spannungen aus dem Weg geräumt, Gemeinsames
erkannt werden.
Die Erziehung zur Dialogfähigkeit ist ein wichtiger Pfeiler für die
Entfaltung einer Identität, die der Herausforderung einer
pluralistisch-multikulturellen Realität gewachsen ist: Sie fördert die
Möglichkeit des friedlichen Nebeneinanderbestehens, sie ist Voraussetzung für
die Förderung einer gemeinsamen Integration. Nur indem nicht zusätzlich
Grenzen errichtet, stattdessen Transparenz und Offenheit zugelassen werden, ist
ein gegenseitiger Austausch und darüber hinaus eine gegenseitige Bereicherung
möglich.
Ich denke, daß der islamische Religionsunterricht so eine Brücke des
Verstehens sein kann und daß dieser Unterricht zugleich einen
friedenserhaltenden, positiv sozialen Aspekt beinhaltet.