Muslime fordern Islamischen Religionsunterricht und lehnen Mogelpackung “Islamkunde”
ab
Mißachtung der Verfassung, des Grundgesetzes und des Neutralitätsprinzips,
Kompetenzüberschreitung, Verstoß gegen die säkularen Prinzipien und das
Gleichbehandlungsprinzip aller Religionsgemeinschaften sind nur einige der
Vorwürfe, die Sprecher der Muslime und deren Vertretungen gegen das Land
Nordrhein-Westfalen erheben.
Anlaß ist der Plan des NRW-Kultusministeriums, für muslimische Kinder in
NRW unter bewußtem Ausschluß der Islamischen Religionsgemeinschaften anstelle
des im Grundgesetz vorgeschriebenen ordentlichen Religionsunterrichts ein
Ersatzfach "Islamkunde" einzuführen.
Von den ca. 3 Millionen Muslimen in Deutschland sind bereits über 10%
deutsche Staatsbürger, davon etwa 100.000 deutschstämmige Muslime. Mehr als
500.000 muslimische Kinder und Jugendliche besuchen deutsche Schulen. 70% von
ihnen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. In einigen Schulen beträgt
der Anteil der muslimischen Schülerinnen und Schüler über 50%. Trotz dieser
nicht mehr zu übersehenden Präsens wird den muslimischen Kindern bisher in
allen Bundesländern ein im Grundgesetz verankertes Recht vorenthalten. Das
Recht auf eigenen Religionsunterricht, so wie er für Kinder anderer Religions-
und Weltanschauungsgemeinschaften (katholische Kirche, evangelische Kirche,
jüdische Gemeinde, syrisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe, unitarische,
freireligiöse, mennonitische, humanistische Gemeinde, u.a.) selbstverständlich
ist.
Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes regelt den Religionsunterricht:
"Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der
bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen
Aufsichtsrechts wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den
Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt."
In einem demokratischen Rechtsstaat gelten diese Prinzipien für alle, ohne
Ansehen der Hautfarbe, Religion, Herkunft usw. wie es heißt. In
Nordrhein-Westfalen ist man anderer Ansicht. Für das NRW-Kultusministerium gilt
das Grundgesetz nur für Christen und Nicht-Muslime.
Muslime werden anderen Regeln unterworfen, wenn es sein muß mit
administrativer Gewalt.
Konzertierte Aktion der Behörden in NRW gegen islamischen
Religionsunterricht
Was für den unbedarften Zeitgenossen wie eine Farce anmutet, wird für
muslimische Eltern und Kinder in NRW bald bittere Realität - die Rückkehr ins
Mittelalter. Der Landesvater diktiert die Religion, Staatsbeamte definieren
religiöse Inhalte, Entmündigung der Religionsgemeinschaft, Menschenrechte und
Religionsfreiheit ade. Dies alles und noch mehr ruht derzeit auf den
Schreibtischen der politisch Verantwortlichen in NRW. Es geht um den islamischen
Religionsunterricht oder besser gegen den islamischen Religionsunterricht - es
geht gegen das Grundrecht der muslimischen Kinder auf religiöse und ethische
Erziehung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen ihrer Religionsgemeinschaft.
Nach den Plänen des NRW-Schulministeriums soll ab dem nächsten Schuljahr für
muslimische Kinder in 37 öffentlichen Schulen von NRW ein Islamkunde-Unterricht
verordnet werden. Warum dieser Aktionismus?
Warum dieser plötzliche Aktionismus? Gilt die Sorge des
NRW-Schulministeriums etwa den vielen hunderttausend muslimischen Kindern, denen
die im Grundgesetz garantierte religiöse Bildung bisher nicht geboten werden
konnte?
Haben die muslimischen Verantwortlichen ihre Pflichten nicht erfüllt, so
daß Vater Staat aktiv werden mußte, zum Wohle der Kinder? Die Antwort ist
nein.
Die Muslime in NRW haben ihre Hausaufgaben gemacht, sie sind aktiv geworden.
Integrationsbemühungen und Kooperationsbereitschaft der Muslime werden
ignoriert
Antrag der Muslime in NRW auf islamischen Religionsunterricht wird seit fünf
Jahren nicht bearbeitet
Seit 1994 liegt dem NRW-Schulministerium der Antrag der Spitzenverbände der
Muslime auf Bundesebene, Zentralrat der Muslime in Deutschland und Islamrat von
Deutschland zur Einführung eines islamischen Religionsunterricht vor. In diesen
Spitzenverbänden sind die überwiegende Mehrheit der Islamischen Organisationen
vertreten.
Auch die Pluralität und Internationalität der hiesigen islamischen
Community ist hier vertreten mit türkischen, marokkanischen, arabischen,
albanischen, bosnischen, bengalischen, afghanischen, pakistanischen,
indonesischen und nicht zuletzt deutschen und deutschstämmigen Vereinen und
Interessenverbänden.
Der Vertretungsanspruch ist demokratisch legitimiert und längst in anderen
Bereichen etabliert. Als Ansprechpartner für die religiösen Belange der
Muslime sind die gewählten Vorstände der beiden Spitzenverbände in vielen
Gremien vertreten und auch als Experten bei Anhörungen des Bundestages gefragt.
Aus welchen Gründen die Regierung von NRW diese Vertretungsorgane ignoriert
und es vorzieht mit Nicht-Muslimen über islamische Unterrichtsinhalte zu
verhandeln ist nicht bekannt. Dem Antrag auf Religionsunterricht wurde damals
auch ein 10-Punkte Konzept beigefügt, das Einzelheiten der Unterrichtssprache
(deutsch), Ausbildung der Lehrkräfte (in Deutschland) und Erstellung der
Lehrpläne (in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft,
gesellschafts- und problemorientiert, integrativ und zeitgemäß) sowie die
staatliche Schulaufsicht regelt. In der Sache wurde dieser Antrag seit nunmehr
fünf Jahren, bis heute nicht bearbeitet.
Zweitstellige Millionenbeträge aus Steuergeldern für gescheitertes
NRW-Projekt
Gegen den deutlichen Protest der Muslime versuchte sich das Ministerium in
NRW in den 80er Jahren in dem verfassungsmäßig sehr fragwürdigen Projekt
"Religiöse Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens". Ohne
Beteiligung der Vertreter der Muslime, wurde im Rahmen des muttersprachlichen
Ersatzunterrichts dieses NRW-Modell eingeführt: Unterrichtssprache türkisch,
erteilt von islamologisch unqualifizierten, teilweise areligiösen und
atheistischen Lehrern sowie mit extrem türkeiorientierten desintegrativen
Lehrinhalten. Dieses Modell gilt nun als gescheitert, da es nach jahrelangem
Probelauf nur 5% der muslimischen Kinder begeistern konnte. Die Steuerzahler
mußten für diesen Flop bisher zweistellige Millionenbeträge aufbringen.
Dieses NRW-Modell soll jetzt trotz massiver Proteste der Islamischen
Dachorganisationen, schrittweise durch ein anderes Unterrichtsmodell ersetzt
werden, das verfassungsrechtlich noch fragwürdiger ist als sein gescheiterter
Vorgänger.
"Islamkunde" ist angesagt. Ein neues Fach, eine weitere
Mogelpackung, kreiert vom weltanschaulich neutralen Staat, der sich selbst das
Recht nimmt, den Muslimen die islamischen Glaubensinhalte zu diktieren und diese
ihren Kindern per Dekret zu vermitteln. So einfach scheint das in einer
Demokratie. Natürlich "erdreistet" sich die NRW-Administration nicht,
die religiösen Inhalte des Islam allein zu definieren. Dazu reicht der
Sachverstand der Sachbearbeiter nicht aus. Man hat sich abgesichert und
"Fachleute und Experten in Sachen Islam" befragt und um Stellungnahmen
gebeten. Da offensichtlich nach Ansicht des NRW-Ministeriums das Grundgesetz in
Sachen Religionsunterricht nicht für Muslime gilt und Muslime keine Fachleute
in Sachen Islam sind, wurden die islamischen Spitzenorganisationen und Verbände
nicht befragt und nicht zu Rate gezogen, stattdessen eine Vielzahl anderer
"Islam-Experten" unter anderem die Industrie- und Handelskammer, der
Deutsche Gewerkschaftsbund, der deutschen Städtetag und die christlichen
Kirchen.
Protest der Muslime gegen Ausgrenzung und Ungleichbehandlung
In einer konzertierten Aktion protestierten jetzt die Muslime gegen das
verfassungsmäßig fragwürdige Vorgehen der NRW-Landesregierung. In einer
Pressekonferenz am 26. April 99 im Pressezentrum des Landtags Düsseldorf sprach
sich der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) deutlich gegen die
Unterrichtsmodelle des NRW-Kultusminsteriums aus, weil sie nicht im Sinne des
Grundgesetzes als Religionsunterricht konzipiert sind und keine Mitwirkung der
Religionsgemeinschaft bei der Erstellung der Unterrichtskonzepte zulassen.
In seiner Erklärung wies der ZMD nochmals darauf hin, daß nach dem
Grundgesetz die Religionsgemeinschaften im Einvernehmen mit dem Staat Inhalte
und Didaktik des Religionsunterrichts sowie die Auswahl der Lehrkräfte
bestimmen. Auf dem Boden dieser Verfassungsnorm und im Sinne der
Gleichbehandlung mit allen anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften,
für deren Kinder Religionsunterricht in der Schule bereits Praxis ist,
katholische Kirche, evangelische Kirche, jüdische Gemeinde, syrisch-orthodoxe,
griechisch-orthodoxe, unitarische, freireligiöse, mennonitische, humanistische
Gemeinde, u.a. steht auch den muslimischen Kindern in Deutschland dieses Recht
zu.
Bei dieser Pressekonferenz legte der ZMD auch einen eigenen Lehrplan für den
Religionsunterricht an öffentliche Schulen vor. Entwickelt und ausgearbeitet
wurde der Lehrplan vom zuständigen pädagogischen Fachausschuß des ZMD in
jahrelanger Vorarbeit und nach intensivem Gedankenaustausch mit kirchlichen
Fachleuten und anderen gesellschaftlichen Gruppen
Nach Aussage des ZMD soll der vorgelegte deutschsprachige Lehrplan für
hunderttausende muslimische Schülerinnen und Schüler in Deutschland Grundlage
für die religiöse und ethische Erziehung und Bildung schaffen, einen positiven
gesellschaftspolitischen Beitrag liefern und gezielt integrativ wirken.
In seiner Stellungnahme betonte ZMD-Vorsitzender Dr. Nadeem Elyas, daß das
Ziel dieses pädagogischen Konzepts "die Erziehung einer
identitätsbewußten und integrationsfähigen Generation von Muslimen in
Deutschland ist, die sich ausgehend von den Werten ihrer Religion dieser
deutschen Gesellschaft verpflichtet fühlen. Nur die deutsche Sprache, als
gemeinsame Sprache der in Deutschland lebenden Muslime, kann als Mittel der
Integration für diese Gesellschaftsgruppe dienen."
Angesichts dieser Entwicklung stellt sich für die Muslime in Hessen jetzt
die Frage, ob die Geduld der Muslime in NRW Vorbild für Hessen sein kann und
darf. Fünf Jahre Nicht-Bearbeitung eines Antrages, staatliche Ignoranz
gegenüber den demokratisch gewählten Vertretern der Muslime und Entmündigung
der religiösen Autoritäten sind kein Anreiz zur Nachahmung der Abwartehaltung
und respektvollen Geduld.
Auch in Hessen warten die Muslime auf die ordnungsgemäße Bearbeitung ihres
Antrages auf Einführung des islamischen Religionsunterrichts in Hessischen
Schulen durch das Kultusministerium. Auch der hessische Antrag kommt langsam in
die Jahre, trotz Integrationsversprechungen und Gleichheits- und
Gerechtigkeitszusagen der neuen Landesregierung, ganz abgesehen davon, daß der
Religionsunterricht für Nicht-Muslime als bleibendes und wichtiges Recht in der
Koalitionsvereinbarung bekräftigt wurde.