Am 3. Oktober 99 hielt der Vorsitzende der IRH Amir Zaidan anläßlich der
Veranstaltung „Einheit in religiöser Vielfalt“ zum Tag der Deutschen
Einheit eine Rede zum Thema „Religionsfreiheit entfalten“, den wir hier
wegen der großen Nachfrage in Auszügen wiedergeben.
„Unser diesjähriges Motto lautet - Religionsfreiheit entfalten - und ich
möchte ergänzen Religionsfreiheit für alle entfalten.
In Deutschland und in Europa ist in den letzten Monaten ein besonders Fieber
ausgebrochen. Alle fiebern dem Anbruch des neuen Jahrtausends entgegen und
machen Pläne für einen neuen Aufbruch und neue Perspektiven. Die Angehörigen
religiöser Minderheiten, Juden und Muslime beobachten diese Aufregung aus einer
gewissen Distanz, denn schließlich beginnt am 1. Januar lediglich das 21.
Jahrhundert christlicher Zeitrechung. Die jüdischen Mitbürger befinden sich
bereits im 5. Jahrtausend und die Muslime im Jahr 1420. Im Hinblick auf die 2000
Jahre abendländische Geschichte und ihren Umgang mit Minderheiten könnte
dieses neue christliche Jahrtausend auch eine Gelegenheit für einen Neuanfang
im interreligiösen Bereich sein.
Religionsfreiheit für alle zu entfalten, ist nur möglich - wenn es gelingt,
ein neues, weltoffenes europäisches Bewußtsein zu entwickeln - wenn es
gelingt, das Kollektivgedächtnis der europäischen Gesellschaften im Hinblick
auf den Islam und andere Minderheiten zu reformieren - wenn es gelingt,
verkrustete Denkstrukturen aufzubrechen - und hier ist auch Selbstkritik für
alle Seiten angesagt - und wenn der Wille da ist, etwas zu verändern.
Um Religionsfreiheit für alle zu entfalten, brauchen wir eine neue
Aufklärung, ja eine neue Reformation.
Nach dem Islam haben alle Menschen eine eigene Würde, die es zu achten gilt
- auch haben alle Menschen das Recht auf freie Wahl der Religion oder
Nicht-Religion.
Alle Religionen haben eigene Werte und Traditionen, die es zu respektieren
gilt. Eine Integration der hier lebenden Minderheiten und vor allem der Muslime
kann nur gelingen, wenn diese Werte für alle gelten und nicht exklusiv für die
Mehrheitsgesellschaft.
Eine Integration wie sie zur Zeit propagiert wird - unter Verleugnung der
eigenen religiösen und kulturellen Identität der Muslime - unter Verstoß
gegen religiöse Gebote des Islam - unter Mißachtung der eigenen Werte - ist
zum Scheitern verurteilt.
Europa tut sich noch schwer mit der Einübung von interkultureller Kompetenz
und interreligiöser Toleranz. Das haben wir jüngst erlebt beim Sprachenstreit
in der EU - wo sich die Vertreter der BRD wegen des Ausschlusses ihrer Sprache
ziemlich brüskiert fühlten.
Unter Integration verstehen wir nicht allein die Thematisierung auf
akademischer Ebene, bei runden Tischen, Medienauftritten und Festveranstaltungen
wie der heutigen, sondern in der rauhen Realität, im Alltag, in der Schule, am
Arbeitsplatz, in der Gesellschaft und in der Politik.
Die praktische Umsetzung der verbalen Bekenntnisse ist längst überfällig.
Ich denke hier vor allem an den wichtigen Erziehungs- und Bildungsbereich. Dort,
wo die kommenden Generationen geprägt werden, wo die neuen Europäer
aufwachsen, wo Meinungen und Vorurteile gemacht werden. In den Kindergärten und
Schulen - durch ErzieherInnen, LehrerInnen, Schulbehörden und
Kultusministerien. Hier muß das beginnen, was schließlich zu einer
Religionsfreiheit für alle führen kann. Eine gezielte und gewollte Erziehung
der kommenden Generationen zu Toleranz.
Dies kann nur gelingen, wenn die Einübung von Toleranz in der Praxis, am
lebenden Beispiel im Schulalltag ermöglicht wird, ja selbstverständlich wird
und nicht die bisher praktizierte „Toleranz light“ als Trockenübung mittels
verbaler Bekenntnisse.
Hierzu ist es notwendig daß die Schulbücher zum Thema Islam überarbeitet
werden, um unsachliche, rassistische Inhalte durch sachliche Information zu
ersetzen.
Hierzu ist es ebenso notwendig unseren Kindern das Recht auf Islamischen
Religionsunterricht nicht länger vorzuenthalten. Notwendig ist ganz besonders
ein Umdenken der politisch Verantwortlichen und der Entscheidungsträger.
Religionsfreiheit bedeutet nämlich auch die Akzeptanz einer sichtbaren
islamischen Identität von Lehrerinnen und Schülerinnen, und hier vor allem die
islamische Kleidung, das Kopftuch. Religionsfreiheit ist der Respekt vor der
freien Entscheidung muslimischer Frauen zu einer selbst gewählten islamischen
Lebensweise.
So gesehen, setzen die Kultusministerinnen in Baden-Württemberg und
Niedersachsen Signale in die falsche Richtung. Ausgrenzung muslimischer Frauen
aus der Gesellschaft kann keine Lösung sein und sind sicher keine Beispiele
praktizierter Religionsfreiheit.
Aber auch die Bevormundung und Entmündigung der Muslime wie in
Nordrhein-Westfalen sind ungeeignete Signale. Wir alle wissen, daß die dort
staatlich verordnete Islamkunde unter Umgehung der Muslime ein klarer Verstoß
gegen die Religionsfreiheit und die säkularen Prinzipien unseres Staates ist.
Europa im 21. Jahrhundert muß lernen, die Ansprüche, die es an andere
stellt, zunächst in den eigenen Reihen umzusetzen.
Toleranz und Religionsfreiheit darf nicht nur im Ausland und von den anderen
gefordert werden. Muslime in Deutschland dürfen nicht ständig verantwortlich
gemacht werden für Menschenrechtsverletzungen im Ausland. Muslime in
Deutschland sind keine Handlanger ausländischer Mächte oder Organisationen.
Der Blick aufs Ausland darf nicht die Mißstände vor der eigenen Haustür
verschleiern.
Der Führungsanspruch Europas in Bezug auf seinen Umgang mit Minderheiten und
Religionsfreiheit muß hier in Europa noch unter Beweis gestellt werden.
Ziel muß es sein die Respektierung der Andersartigkeit zur
Selbstverständlichkeit werden zu lassen und einen unverkrampften Umgang
miteinander zu pflegen.
Solange in Deutschland Nicht-Muslime, Islamwissenschaftler, Orientalisten und
andere sogenannte Islamexperten - an den Muslimen vorbei den Islam definieren
wollen und dabei noch ernst genommen werden, klafft ein gefährlicher Abgrund
zwischen Anspruch des Grundgesetzes und der Realität.
Diesen Abgrund gilt es zu überbrücken, durch Wort und Tat, hier und heut,
durch Politik und Gesellschaft.
Solange Fremdbestimmung und Fremddefinition nicht durch Respekt und
Selbstbestimmung ersetzt werden, ist der Führungsanspruch Europas in Sachen
Menschenrechte nicht legitimiert.
Die IRH setzt sich ein für die Verwirklichung der Religionsfreiheit, hier
und anderswo, für die Integration der Muslime und anderer Minderheiten in die
hiesige Gesellschaft, für die Entwicklung einer religiösen Sprache für den
Islam in Deutschland und somit eines Islam deutscher Prägung.
Das wichtigstes Instrument der Integration muslimischer Kinder ist der
islamische Religionsunterricht auf deutsch - ein in der Verfassung verankertes
Recht - ein praktisches Beispiel für die politische Umsetzung der
Religionsfreiheit.
Die Muslime in Hessen warten auf Zeichen!
Die IRH ist anerkannt als Religionsgemeinschaft in einem jetzt ergangenen
Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt. Der Ansprechpartner vieler Muslime
für den Staat ist da. Die IRH sucht Ansprechpartner.
Die politischen Signale in Hessen, Baden-Württemberg und Niedersachsen
deuten auf Ausgrenzung und Ignoranz,
Religionsfreiheit für alle?