FB 9/1 November 1999 IRU
Nicht ob oder wie, sondern wann und
warum noch nicht?
Unbequeme Fragen bei der Fachtagung
„Islamischer Religionsunterricht“ in Berlin
Auf Initiative der Beauftragten der
Bundesregierung für Ausländerfragen, Marieluise Beck und in Zusammenarbeit mit
dem Zentrum Moderner Orient begann am 16. November ein neues Dialog- und
Diskussionsforum zwischen islamischen Organisationen und Landesbehörden zum
Thema islamischer Religionsunterricht (IRU) an staatlichen Schulen in
Deutschland.
Beim ersten nichtöffentlichen
Fachgespräch „Islamischer Religionsunterricht“ im Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung in Berlin erörterten ca. 40 geladene Teilnehmer aus
dem gesamten Bundesgebiet unterschiedliche Modelle zur Umsetzung des im
Grundgesetz verankerten bekenntnisorientierten, konfessionellen
Religionsunterrichts für muslimische Schüler.
In ihrer Einführungsrede
erklärte die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck, daß integrationspolitisch
eine breit angelegte Initiative notwendig sei, die es den zuständigen Landesbehörden
ermögliche, sachkundig und zügig über die Integration auch der religiösen
Belange von Kindern und Jugendlichen nicht-christlichen Glaubens in der Schule
zu entscheiden.
Die bisher gängige Praxis des Verweises auf den
langwierigen Gerichtsweg sei in jedem Fall kontraproduktiv. Beck verwies auf die
große Zahl von 350.000 Schülerinnen und Schülern aus islamisch geprägten
Herkunftsländern, deren Integration auch unter dem Gesichtspunkt ihrer religiösen
Belange diskutierte werden müsse. Im Mittelpunkt stünden hierbei die Fragen
nach Zielen, Inhalten, Formen und Umsetzungsmöglichkeiten eines
Islamunterrichts an staatlichen Schulen. Diskutiert werden sollten deshalb
Fragestellungen des "ob" - also ob es eine Basis für einen
konfessionellen islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen gibt -
und die Frage des "wie" - also welche Unterrichtskonzepte vorliegen
und wie diese umgesetzt werden könnten.
Entgegen der in den Medien und von vielen Politikern
verbreiteten Unterstellung der Integrationsunwilligkeit, Demokratie-, Dialog-
und Kritikunfähigkeit der Migranten und vor allem der Muslime konnten die
islamischen Organisationen bei diesem ersten Fachgespräch mit voller Besetzung
eindrucksvoll die gängigen Klischees widerlegen. 18 Fachfrauen bzw. -männer in
Vertretung aller geladenen islamischen Organisationen reisten auf Einladung der
Initiatoren aus dem gesamten Bundesgebiet an und stellten ihre vollzogene
Integration bzw. ihre Integrationsbereitschaft und ihre politische Mündigkeit
unter Beweis.
Von Seiten der vorgesehenen Dialogpartner, der geladenen
Kultusministerien, Behörden und
Ausländerbeauftragten nutzte nur eine Minderheit die Möglichkeit des
kritischen Austauschs mit den Muslimen. Mit Befremden wurden beispielsweise die
Absagen aus den Bundesländern registriert, in denen konkrete Anträge der
Muslime auf islamischen Religionsunterricht vorliegen. So zog es beispielsweise
das Hessische Kultusministerium vor, das derzeitige große Schweigen fortzuführen,
obwohl gerade in diesem Bundesland alle Voraussetzungen für die Genehmigung
eines islamischen Religionsunterrichts seit Monaten vorliegen und der
Antragsteller - die IRH - mittlerweile auch juristisch als Religionsgemeinschaft
anerkannt ist.
Von den anwesenden Vertretern der Kultusbehörden
referierte Ministerialrat Pfaff über das Projekt Islamkunde in
Nordrhein-Westfalen und stellte sich anschließend den kritischen Fragen des
Plenums. Das NRW-Model "staatliche Islamkunde" anstelle des im
Grundgesetz vorgesehenen ordentlichen konfessionellen islamischen
Religionsunterrichts steht in der Kritik der Muslime, weil hier seit mehr als 10
Jahren ohne Einbeziehung der islamischen Organisationen vor Ort, vom neutralen
säkularen
Staat eigenmächtig und unter Überschreitung seiner Kompetenzen
islamisch-religiöse Inhalte festgelegt werden. Kooperationspartner bei der
Erstellung der Lehrpläne für die diesjährige Neuauflage des NRW-Models unter
neuem Etikett "Islamische Unterweisung" waren unter anderem die
Konsulate, die Industrie- und Handelskammer, der Deutsche Gewerkschaftsbund, der
Deutsche Städtetag, der Landesausländerbeirat und die christlichen Kirchen -
jedoch keine offizielle Vertreter der Islamischen Organisationen. Die Frage,
weshalb der ADAC nicht auch noch um seine Meinung gefragt worden war, wurde in
dieser Runde nicht gestellt.
Die muslimischen Teilnehmer bemängelten vor allem die seit
Jahren praktizierte Verzögerungs- und Hinhaltetaktik der NRW-Behörden und die
immer noch praktizierte Ignoranz gegenüber den religiösen Autoritäten vor
Ort.
Pfaff erläuterte auf Nachfrage die staatlich organisierte
Ausbildung der Lehrer für die alte/neue „Islamkunde“, konnte jedoch die
anwesenden muslimischen Fachleute von der islamologischen Qualität dieses
staatlich definierten Pseudo-Islam nicht überzeugen. Ebenso unglaubwürdig wie
die Behauptung eines islamologischen Standards bei der Lehrerausbildung war die
These, daß in der angebotenen "Islamkunde" keine
"Glaubensinhalte" vermittelt würden und deswegen eine - wie im
Grundgesetz vorgesehene - Abstimmung der religiösen Inhalte mit den Muslimen nicht
unbedingt erforderlich sei. Besonders bedenklich
stimmte der Bericht der Vertreterin des Zentralrats der Muslime/ZMD, die ihre
Erfahrungen mit der "Lehrerfortbildung" für
Islamkunde in NRW schilderte, bei der überwiegend islamfremde Kultur-Muslime,
wie beispielsweise die türkische Schriftstellerin Saliha Scheinhard eingesetzt
werden, was zu einer Verunsicherung und Desorientierung der Lehrer führe.
Der Einwand, es gäbe religiöse Inhalte im Islam, wie
beispielsweise die Rolle der Frau, die mit der deutschen Verfassung nicht
vereinbar seien, wurde aus dem nicht-muslimischen Plenum mit dem Hinweis
zurückgewiesen,
daß die Kollision einzelner Inhalte einer Religionsgemeinschaft mit dem
Grundgesetz auch bei anderen Glaubensgemeinschaften der Religionsfreiheit
unterliegen und keineswegs Grund zur Nicht-Genehmigung von RU seien. Sehr
deutlich wird dieser juristische Grundsatz am Beispiel der katholischen Kirche,
wo die untergeordnete Stellung der Frauen in der offiziellen Lehre keineswegs
als Verfassungsfeindlichkeit gewertet wird. Da eine derartige Diskriminierung
der Frauen im Islam nicht vorhanden ist, wurde dieser Vorwurf von den Muslimen
entschieden zurückgewiesen. Die Unhaltbarkeit des Einwandes wurde zudem durch
die sichtbare Anwesenheit von 50% muslimischen Fachfrauen bei der Tagung
unterstrichen.
Für die Senatsverwaltung referierte Dr. Angelika Knubbertz
über die Situation in Berlin. Bei der Darstellung der historischen Entwicklung
hatte sie mit der Bemerkung, der
Senat sei von dem Urteil des Verwaltungsgerichts in Berlin zugunsten der
Islamischen Föderation "kalt erwischt worden" die Lacher auf ihrer
Seite. Schließlich hatte die Islamische Föderation mehr als 18 Jahre lang für
das Recht auf Erteilung von Religionsunterricht gegen den Senat geklagt. Dr.
Knubbertz stellte den im nächsten Jahr geplanten Schulversuch "Islamische
Kulturkunde" vor und versuchte, ebenso wie der Vertreter von NRW, die
Anwesenden davon zu überzeugen, daß es möglich sei, den Islam
„aufzuteilen“ und in der Schule sachlich richtig darzustellen, ohne dabei
islamisch-religiöse Inhalte zu thematisieren.
Diese „Trennkost-Mär“ wurde zwar im Laufe des Tages
von den Behördenvertretern immer wieder aufgetischt, von den muslimischen
Teilnehmern jedoch als unrealistisch und unrealisierbar zurückgewiesen, da
Muslime den Islam als allumfassende Lebensweise verstehen. Weiter führte
Knubbertz aus, daß die islamologisch inhaltliche Richtigkeit des vom Senat
eigenmächtig und - ebenso wie in NRW - ohne Einbeziehung von islamischen
Fachleuten ausgearbeiteten Lehrplans für die
"Islamische Kulturkunde" durch Gutachten von Islamwissenschaftlern
gesorgt sei. Der Einwand, daß Islamwissenschaftler keine von islamischen
Autoritäten anerkannte islamologische Qualifikation besäßen und somit für
diese Aufgabe ungeeignet seien, konnte von Knubbertz nicht entkräftet
werden.
Prof. Weisse vom Fachbereich Erziehungswissenschaft der
Universität Hamburg stellte das Hamburger Modell vor. Hier werden in einem
interreligiösen Unterricht Kinder aller Religionen gemeinsam unterrichtet. Als
Lehrkräfte für diesen Unterricht sind ausschließlich evangelische
Religionslehrer zugelassen.
Lehrpläne, Unterrichtsmaterialien und Inhalte der
Lehrerfortbildung werden jedoch gemeinsam mit Vertretern der großen
Weltreligionen ausgearbeitet. Der Unterricht selbst soll von den Kindern
ausgehen, die ihre Erfahrungen und Kenntnisse miteinbringen und so zu
einem „vertieften Begreifen des eigenen Standpunktes" führen. Wie
Kinder einen eigenen Standpunkt vertreten und den propagierten interreligiösen
Dialog im Klassenzimmer führen können, die keine eigenen Erfahrungen und
Kenntnisse mitbringen und eben kein inhaltlich korrektes Wissen über ihre
Religion besitzen blieb allerdings offen.
Amir Zaidan stellte das Modell IRU in Hessen vor und führte
ergänzend aus, daß Heimat in der eigenen Religion zu haben, eine wesentliche
Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration sei.
Wesentliches Ziel der pädagogischen Bemühungen eines IRU
sei es, den SchülerInnen Wege aufzuzeigen, die eigene Lebenswirklichkeit aus
der religiösen Perspektive zu deuten und wahrzunehmen und darauf aufbauend
verantwortungsvoll zu handeln. Weiter erläuterte er, daß die Durchführung des
Unterrichts in deutscher Sprache zum Vorteil hat, daß die Iman- und Lehrinhalte
des Islam sowie die Unterrichtsziele und Lehrinhalte auf Deutsch verstehbar und
transparent werden.
Die Vorbeugung von Selbstethnisierung durch sprachliche/
ethnische Ghettoisierung sowie die Entwicklung einer positiv besetzten religiösen
Identität, der Abbau von Integrationshindernissen durch realitätsbezogenen
Unterricht, die Förderung der kulturellen Kompetenz und die Erziehung zur
Dialogfähigkeit sind weitere Pluspunkte eines IRU.
Dies alles kann dazu beitragen, eine neue Generation von Muslimen heranzubilden,
die sich als Teil der deutschen Gesellschaft verstehen und ihre Verantwortung darin
sehen, sich in die gesellschaftliche Debatte einzubringen und ihre Positionen in
einer zeitgemäßen Sprache zu vertreten.